Mystik und Spiritualität bedeutet auch die Überwindung unserer einseitig-rationalen Erziehung und Ausbildung, der überrationalistischen Lebensweise unserer Gesellschaft. In unserer Gesellschaft leben wir praktisch nur mit einer Gehirnhälfte – der rational-logischen – und damit sozusagen „einäugig.“
Die andere Gehirnhälfte – die bildhaft-intuitive – zu aktivieren und aus beiden zusammen zu leben, das eröffnet eine zusätzliche Dimension in unserem Leben. Der Unterschied ist etwa so zu erklären: Mit einer Hirnhälfte denkt man nur entlang einer Linie. Mit beiden zusammen bewegt man sich plötzlich in einer Ebene – mit ganz neuen Freiheitsgraden!
Als Gegenbewegung zu Intellektualität und strenger Wissenschaftsgläubigkeit hat sich ein breites Interesse an Fragen der Psyche und der Transzendenz entwickelt – nach dem Sinn des Lebens, nach einem sinnvollen Miteinander von Mensch und Schöpfung und nicht zuletzt nach dem Urheber all der Gesetzmäßigkeiten der sogenannten ,,Wirklichkeit“, ohne daß je ein Punkt erreicht worden wäre, an dem menschliches Erkennen Ruhe gefunden hätte. Aus der vermeintlichen Enge unserer abendländischen Denktradition richteten sich in den vergangenen Jahrzehnten die Blicke auf die religiösen und spirituellen Praktiken des Ostens.
Asiatische Techniken der Meditation und der Selbsterfahrung finden viele überzeugte Anhänger. Die Kirche trifft der Vorwurf, Esoterik, Okkultismus und Teufelskult seien bei vielen Jugendlichen deshalb ,,im Trend“, weil das Mystische und Jenseitige im Zuge einer überschnellen Anpassung an rationalistische Tendenzen vernachlässigt worden sei. Die im Christentum seit Jahrhunderten vorhandene reiche kontemplative Tradition ist zum Teil in Vergessenheit geraten, zum Teil nicht mehr zugänglich oder aber nicht mehr verständlich. Wer sich dennoch auf das Gedankengut der abendländischen Mystik einläßt, läuft Gefahr, mißverstanden zu werden.
,,Mystik und Spiritualität bedeuten für viele etwas Verschwommenes, Schwärmerisches und werden vielfach mit parapsychologischen Phänomenen gleichgesetzt.“ Religiöse Erfahrung rückt so in die Nähe des Geheimbündlerischen, das nur für Eingeweihte gedacht ist. Noch stärker erschwert wird die Beschäftigung mit ,,Mystik“ und “Spiritualität” heute dadurch, daß viele Zeugnisse europäischen religiösen Erlebens aus längst vergangenen Zeiten stammen und den interessierten Laien eher abschrecken als ermutigen, sich selbst auf mystische Texte und Erfahrungen einzulassen.
Sie bieten jedoch die Chance zu einem Neuanfang. Der Theologe Karl Rahner sagte einmal: „Der Fromme des 21. Jahrhunderts ist ein Mystiker – oder er ist keiner mehr.“
Die Kirche selbst hat in den letzten Jahrhunderten – ja schon seit Meister Eckharts Zeiten – mystische Erfahrungen sehr mißtrauisch betrachtet und als unerwünschte Konkurrenz zur “Dogmengläubigkeit” eingestuft. Dieser Text versucht, einen Zugang zum Gedankengut “der Mystik” und “der Spiritualität” zu vermitteln.
Im Gegensatz zur Mystik des Ostens propagiert abendländische Mystik keinen Rückzug aus der Welt. Sie versucht vielmehr, kontemplatives und aktives Leben zu vereinen: So ist christliche Mystik zum einen das Versenken in das göttliche Licht, zum anderen Ausführung des Auftrages, das geoffenbarte Wort weiterzugeben.
Das Ziel mystischer „Gotteserfahrung“ ist die ,,unio mystica“, die unmittelbare Vereinigung des Glaubenden mit Gott. Deshalb ist Mystik schon aus ihren Wurzeln heraus nicht an konfessionelle Grenzen gebunden.
Schwierig ist es aber auch deswegen, weil unser duales, rationales Denken es gar nicht gewohnt ist, ganzheitlich zu arbeiten. Mystische Erlebnisse dual zu verarbeiten, das kann nicht wirklich gut gehen……..
Was ist Mystik?
Geheimnisvolles, Dunkles, Unergründliches liegt nicht nur im Wortsinn der Mystik. Vom Griechischen ,,myein“ (sich Augen und Mund schließen lassen) abgeleitet, meint Mystik das ,,eingeweiht werden“ in einen Weg, der die ,,unio mystica“ – die wesenhaft erfahrene Einung des menschlichen Selbst mit der göttlichen Wirklichkeit – zum Ziele hat.
1. Mystik – die allgemeine Definition
Mystik ist die tiefe, unmittelbare, rational nicht beweisbare Erfahrung der letzten Wirklichkeit, die man All, Nirwana oder auch Gott nennen kann. Eine religionsgeschichtlich gewachsene Einstellung, die keine übergeordnete Größe mehr über sich duldet, sondern die geheimnisvollen, bildlosen Erfahrungen des Mystikers als die einzig verbindliche, letzte Wirklichkeit im Bereich des Religiösen ansieht.
Für diese – letztlich immer asiatische – Religiosität ist die Person als solche kein Letztes und Gott selber daher nicht personal gefaßt. Die Grenze zwischen “Ich” und “Du” versinkt im mystischen Erleben und enthüllt sich als vorläufig in der All-Eins-Erfahrung des Mystikers. In der Mystik gilt der Primat der Innerlichkeit, die Absolutsetzung der geistlichen Erfahrung. Das schließt ein, daß Gott das reine Passiv in bezug auf den Menschen ist und daß der Inhalt von Religion nur das Eintauchen des Menschen in Gott sein kann. Es gibt kein Handeln Gottes, sondern nur die “Mystik” des Menschen, den Stufenweg der “Einung”. (Wie im Buddhismus, Hinduismus und in weiten Bereichen der Esoterik)
2. Christliche Mystik
Hier ist es der personal sich offenbarende Gott, der handelt; hier gibt es einen Anruf von Gott her, der die von Gott geoffenbarte Wahrheit tief, ganz tief erfahren läßt. Gottes Wort wird um so lebendiger, je tiefer es erfahren wird. Christliche Mystik folgt Jesus Christus als dem lebendigen Wort Gottes, so daß das Wort für die mystische Erfahrung wegweisend ist. Gott ist es, der dem Menschen das Heil schafft, das nur in der persönlichen Begegnung mit Gottes „Du“ wurzeln kann.
Die Theologie des Mittelalters ist geprägt von den Versuchen, über die Vernunft Einsicht in den Glauben zu gewinnen: Die Zeit der Scholastik. Die Vorgehensweise dieser Ansätze sei verdeutlicht anhand eines der Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen.
Anselm vom Canterbury (1033-1109) analysiert in seinem ,,ontologischen Gottesbeweis“ den Begriff Gottes und folgert daraus dessen Existenz:
„Wenn Gott das höchste Wesen sein soll, das ich denken kann, so kann dieses Wesen nicht nur in meiner Vorstellung sein. Es muß auch in Wirklichkeit existieren. Würde Gott nur in meiner Vorstellung und nicht außer mir existieren, so könnte ich mir ein Wesen denken, das in meiner Vorstellung und dazuhin noch außer mir existiert. Dieses wäre dann noch vollkommener. Da Gott aber das vollkommenste Wesen ist, so muß ihm auch Existenz zukommen.“
In der Scholastik des 13. Jahrhunderts hatte sich die rational-spekulative Methode, religiöse Wahrheiten zu entwickeln und darzustellen, durchgesetzt gegenüber einer grundsätzlich anderen Richtung, wie sie in der von Bernhard von Clairvaux (1090-1153) vertretenen Theologie zum Ausdruck kommt: Unbefriedigt von der spekulativen Behandlung der theologischen Wahrheit, wie sie Anselm von Canterbury eingeleitet hatte, ,,erfaßte er mit seinem klaren Geist fast unmittelbar und intuitiv den tiefsten Sinn und die volle Schönheit jener Wahrheiten, die ihm die Heilige Schrift und die Väterlehre verbürgten. Unter dem Einfluß der Kreuz-zugsbewegung, vor allem aber persönlicher Erlebnisse, entwickelte er das Verhältnis der Seele zu Christus und darüber das bräutliche Verhältnis zum ewigen Wort Gottes in einer Weise, daß er als der Vater der Christus- und Brautmystik angesprochen werden kann.“
Der Versuch, Unendlichkeit bereits im Endlichen zu erfassen und zu beschreiben, bestimmt den Ansatz mystischer Erfahrung. Beide Richtungen, Mystik und Scholastik, verfolgen im Grunde genommen dasselbe Ziel: Das Einswerden des menschlichen Bewußtseins mit dem Wesen Gottes; aber während die Scholastiker dieses Ziel erst im jenseitigen Leben für erreichbar halten, will mystische Gotteserfahrung die Überschreitung aller verstandesmäßigen Vermittlung schon im Diesseits erspüren.
Der rationale Aspekt ist bei der mystischen Erfahrung zwar nicht ausgeschlossen, doch das Wesentliche geschieht auf einer anderen Ebene: In der Mitte der Person, im Herzen. Die Mystik des Mittelalters beruht auf der Lehre vom ,,Fünklein der Seele“, das im Grunde der Seele als ,,göttliche Glut“ erhalten blieb und bleibt – trotz Sündenfall und aller menschlichen Verirrungen.
Denn wenn Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, so hat er in den Menschen einen Teil seiner selbst gelegt, der unzerstörbar ist und immer zu Gott, seinem Schöpfer, zurückdrängt.
Das Gefühl der Hingabe, des Versinkens in die Wesenstiefe des Menschen kennzeichnet den Akt mystischen Erlebens. Johannes Tauler umschreibt diesen Zusammenhang folgendermaßen:
,,Die Seele hat einen Funken, einen Grund in sich, dessen Durst Gott, der doch alle Dinge vermag, mit nichts anderem zu löschen vermag als mit sich selber.“
Definitionen haben den Zweck, Sachverhalte einzugrenzen, festzuschreiben und sie dadurch mitteilbar zu machen. Für die geistige Erfahrung, die Gott schenkt, ist dies letztlich nicht möglich. Alle Versuche, mystisches Erleben zu definieren, müssen unpräzise bleiben. Aus dem Ungenügen an vorhandenen Ausdrucksformen heraus ist zu verstehen, daß der Mystiker für das, was er sagen will, neue Möglichkeiten sucht, die dem Außerordentlichen seines Erlebens entsprechen: Bilder, Vergleiche, Paradoxien, Übersteigerungen, synästhetische Beschreibungen – und doch bleiben sie alle unzulänglich, weil sie am Widerspruch, Unaussprechliches in Worte fassen zu wollen, scheitern müssen.
Der Gedanke, ob dann der des mystischen Erlebens Teilhaftige nicht dem Wortsinn von ,,myein“ entsprechen, nämlich schweigen solle, ist naheliegend. Doch stärker als die Not des Ausdrucks ist für den Mystiker der Drang, sich mitzuteilen und anderen zu geben von der eigenen Erfahrung. Nicht das individuelle Genießen Gottes, die ,,fruitio Dei“ ist das Ziel, sondern ,,in Gott bleibend, doch auszugehen zu allen Geschöpfen in umfassender Liebe“, wie es der flämische Mystiker Jan van Ruysbroeck ausdrückt.
In dieser Einheit von Liebe zu Gott und zu seiner Welt liegt die Bestimmung des mystischen Lebens. Mechthild von Magdeburg(1210-1285) fand hierfür Worte, deren Intensität uns auch heute noch berührt:
,,Der Fisch kann im Wasser nicht ertrinken,
der Vogel in der Luft nicht versinken.
Das Gold kann im Feuer nicht verderben,
denn es empfängt da seine Klarheit
und seine leuchtenden Farben.
Gott hat allen Kreaturen das gegeben,
daß sie nach ihrer Natur leben.
Wie könnte also ich meiner Natur widerstehen?
Ich muß von allen Dingen in Gott gehen,
der mein Vater ist von Natur,
mein Bruder nach seiner Menschheit,
mein Bräutigam aus Liebe,
und ich sein ohne Anbeginn.“
Der mystische Weg
Spiritualität und Mystik lassen sich nicht ohne weiteres trennen. Leben aus dem Geist führt über Erfahrungen mit dem Leben aus dem Geist zum persönlichen Betroffensein vom wahren, lebendigen Gott, wie es uns Jesus verkündet. Die Erfahrung des unmittelbaren, persönlichen Betroffenseins vom göttlichen „Du“ des Vatergottes nennt man dann „mystisch“. Das muß nicht mit gewaltigen Visionen einhergehen, das kann auch ganz allmählich und unbemerkt in uns heranwachsen, denn menschlichem Wissen, sei es durch das Denken oder durch Beobachtung gewonnen, haftet immer ein Element des Zweifels an.
Nur mystisches Wissen hat Gewissheit, denn es stammt aus unmittelbarer Wahrnehmung und Erfahrung. Aber es ist gerade deshalb unserem eigenen „westlich-überrationalen“ Verstand nur sehr schwer zugänglich und darum anderen nur schwer oder gar nicht zu vermitteln. Wem es jedoch zuteil wird, der erkennt es sofort als etwas von höherer und realerer Natur als die “normale” Alltagserfahrung. Zum Glück bringt es die mystische Gewissheit mit sich, daß wir den menschlichen Geist jetzt nicht nur besser verstehen, sondern ihm auch mehr Verständnis entgegenbringen: Wir stoßen uns nicht mehr daran, daß andere, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben, nicht nur an der Existenz solcher Erfahrungen zweifeln, sondern auch noch am Verstand derer, die diese Erfahrung kennen.
Nach innen geht also der geheimnisvolle Weg, der den Mystiker zur Erfahrung „Gottes“ führt. Das bedingt eine Veränderung der Einstellung zur Wirklichkeit, die Aufgabe der Aufspaltung des Erkenntnisvorganges in Subjekt und Objekt, in Ich und Welt.
Für den Mystiker kommt es darauf an, ,,den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit von außen nach innen zu verlegen”. Denn solange das Vordergründig-Sinnliche der äußeren Phänomene das ganze Interesse beansprucht und solange das Bedürfnis nach rational-kritischer Analyse dominiert, ist der Innenweg noch nicht betreten. Vielmehr gilt es, eine geistig-seelische Verfassung herzustellen, bei der es zu sinnlichkeitsfreier Wahrnehmung kommen kann, nämlich durch sinnendes Betrachten, durch meditative Einkehr und durch kontemplatives Schweigen. Betreibt man das lange und konsequent genug, entwickelt sich auch ganzheitliche Spiritualität – und das „Gottesbild“ wird auch noch überflüssig….
Diese aus unserer Zeit stammende Beschreibung der Voraussetzung der mystischen Vereinigung ist in der Geschichte der Mystik auf unterschiedliche Weise durchgeführt und beschrieben worden. Die anfängliche Hingabe an „Gott“ kann zur Verzückung, zur Ekstase, zu Visionen, zu alle Empfindungsbereiche umschließender Erfahrung, zu bild- und symbolhaften Erscheinungen, aber auch zur Formulierung in Worten führen. Stellt man unterwegs fest, daß man selbst fraktales Teil von „Allem, was IST“ in der ganzheitlichen Spiritualität geworden ist, hat man das ganzheitliche Bewußtsein in der Polarität erreicht…..
…und damit fängt „ES“ erst an…..
…und diesen Zustand SOLLEN wir nicht erreichen….
Schon mal vormerken…..
- Taschenbuch: 336 Seiten
- Verlag: TWENTYSIX; Auflage: 1 (27. Juni 2017)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3740731044
- ISBN-13: 978-3740731045